Textauszug: Fremde und Gäste

Fremde und Gäste sind eine merkwürdige Spezies. Sie stehen im Spannungsfeld von Intimität und Ferne, Vertrautheit und Unheimlichkeit, Nähe und Distanz. Sie gelten als heilig und göttlich oder als gefährlich und böse. Dabei können eigentlich alle zum Gast und zum Fremden werden. Fremdes findet man überall, jenseits territorialer Grenzen, innerhalb des eigenen Landes, der eigenen Gemeinschaft, und, horribile dictu , Fremdes findet man auch in sich selbst. Fremdheit, soviel steht fest, ist unvermeidbar, denn wir brauchen das andere bzw. den anderen, um uns selbst zu verstehen. Der andere, als Gast oder Fremder, ist für das Eigene bestimmend, insofern ich nur etwas in Abgrenzung und in bezug auf den anderen über mich selbst etwas sagen kann, denn Selbstbezug braucht Fremdbezug. Debatten über die anderen sind also immer auch und vor allem Debatten über uns selbst. Wer macht sich nicht Gedanken über sich, wenn er beabsichtigt, Gäste einzuladen? Und die Griechen machten die anderen zu Barbaren, weil jene nicht in der Lage waren, diese zu verstehen, und ihre Sprache sich lediglich in unverständlichen Geräuschen des ,bla-bla" bzw. ,bara-bara" äußerte. Andere Kulturen nannten ihre eigenen Angehörigen schlicht ,Menschen", um deutlich zu machen, daß eben alle anderen nicht zu dieser Klasse gehören. Der Mensch als das nicht festzustellende Tier braucht das Bild des Gastes und des Fremden, um sich einen Ort und einen Horizont in der Welt zu schaffen: Nur Gott ist dazu in der Lage, sich nicht über das andere seiner selbst verstehen zu müssen, da er diese Differenz zu einem Außen immer schon umgreift - vielleicht ist er daher der große Fremde. Für uns aber gilt: Jede Bestimmung des Fremden ist folglich gekoppelt mit einer Fest-Stellung des Eigenen. Und so kann sich ein bewußter Ausschluß des Fremden nur einem systematischen Anspruch verdanken, der lediglich sein eigenes Vergessen perfektioniert, indem er dasjenige ausschließt, was ihn selbst erst konstituiert.

Aus: Andreas Brenner, Jörg Zirfas: Lexikon der Lebenskunst, Reclam Verlag Leipzig, 2002, S. 118-119.